Vom Memento Mori zu Death Positive: Wie das Wissen um den Tod das Leben beeinflusst
Bereits zum zweiten Mal macht sich eine Gruppe von dreißig Menschen auf den Weg, um in der Alten Pinakothek in München eine Auswahl von
Gemälden näher zu betrachten. Für die Veranstaltung der Domberg Akademie gab es auch diesmal eine Warteliste. Anscheinend weckt der Titel die Neugier der Menschen und das Thema stößt auf Resonanz. Das Besondere: die Gemälde werden nicht aus kunsthistorischem Interesse
betrachtet, sondern mit den Augen der „Vergänglichkeit“. Um die geht es nämlich bei diesem Format an der Schnittstelle von kultureller und
theologischer Bildung, bei dem traditionelle „Vanitas“-Hinweise und „Memento-Mori“-Praktiken in Kunst und Religion mit dem aktuellen Trend
der „death-positive-Bewegung“ in Verbindung gebracht werden. Noch nie war der Tod so omnipräsent wie in der heutigen Zeit. In den
Medien und sozialen Netzwerken werden wir rund um die Uhr mit dem Thema konfrontiert. Braucht es da noch eine zusätzliche, freiwillige
Beschäftigung mit dem Tod? Und vor allem mit der eigenen Vergänglichkeit? „Denke stets an den Tod, damit Du ihn niemals
fürchtest!“ mahnt Seneca (65 n.Chr.). Seneca ist übrigens auch auf dem ersten Gemälde zu sehen, das die Gruppe in der Pinakothek näher
betrachtet. Souverän wird er dargestellt, selbst in seiner Todesstunde. Hilft die Beschäftigung mit dem Tod tatsächlich gegen die Angst vor dem
Tod? Neige ich persönlich bezüglich Tod und Endlichkeit eher zu einer Neigung der Ignoranz oder zur Vergegenwärtigung? Diese und andere
Fragen begleiten uns auf dem Weg durch die Pinakothek und das Teilender eigenen Ansichten ist sehr bereichernd.
Unter den Teilnehmerinnen herrscht weitgehend Übereinstimmung in der Meinung, dass die Beschäftigung mit der eigenen Endlichkeit das eigene Leben sehr wohl beeinflusst. Wenn ich mein Leben vom Ende her in den Blick nehme, dann stellt sich mir die Frage: Was ist (mir) wirklich wichtig und wertvoll? Dann relativieren sich vielleicht Wichtigkeiten und ich gestalte meine Zeit ganz bewusst. Das große gesellschaftliche Thema der Achtsamkeit und der Einübung eines Lebens im Hier und Jetzt können angestoßen und bewusst angegangen werden. So kann das „Memento mori“ (Sei dir der Sterblichkeit bewusst) zu einem „Carpe diem“ (Pflücke den Tag) führen. Wie wir mit dem Gedanken an Tod und Endlichkeit umgehen hängt natürlich auch stark vom Verständnis des Todes ab. Wird der Tod als radikales, endgültiges und umfassendes Ende des Menschen gesehen? Oder aber als Übergang oder Transformation des Menschen in eine andere Existenzweise? Die zweite Station in der Pinakothek führt uns vor ein Bildnis des Hl. Franziskus von Assisi. Auffallend ist die beinahe innige Geste des Heiligen, der seine linke Hand um einen Totenschädel legt. Auch er hat den Blick nach oben gerichtet, die rechte Hand auf dem Herzen. Wird hier die Begegnung mit dem Tod als eine beinahe ekstatische (wie auch der Bildtitel beschreibt) Begegnung mit Christus gesehen? Der Schädel in Franziskus Hand „blickt“ den Betrachtenden direkt an. Wieder geht die Frage an uns: wie ist das bei mir? Welches Verständnis vom Tod habe ich, wie stelle ich mir das „Danach“ vor? In unserer säkularisierten Welt haben wir uns durch die Professionalisierung und Institutionalisierung des Sterbens vom Tod entfremdet. 75% der Menschen sterben laut DAK Pflegereport 2016 im Krankenhaus oder in einer Altenpflegeeinrichtung. In früheren Jahren gab es Riten und Bräuche rund um das Sterben und den Tod der Angehörigen. Der Tod war Teil des normalen Lebens. Der postmoderne Mensch hat Angst vor dem Tod. Er ist etwas, auf das man nicht innerhalb kürzester Zeit durch Internetrecherche eine Antwort findet, etwas, das man nicht unter Kontrolle hat. Etwas, das deshalb von vielen Menschen ausgeblendet wird. Und genau dieser Entwicklung möchte die Death Positive Bewegung entgegenwirken: Ziel ist es, Menschen zu ermutigen offen und gelassen über (den eigenen) Sterbeprozess und Tod nachzudenken. Freie und selbstbestimmte Entscheidungen über Sterbe- und Bestattungswünsche zu treffen und v.a. diese auch an die Angehörigen zu kommunizieren. Ziel ist eine Enttabuisierung des Todes. Angefangen hat die Death Positive Bewegung in den USA. Inzwischen gibt es auch in Europa in manchen Städten sogenannte „Death Cafés“ und Veranstaltungen rund um das Sterben und den Tod: ein Besuch im Krematorium, Friedhofsgänge mit Gesprächsrunde im Anschluss etc.. In Berlin wurde die School of death ins Leben gerufen, in der in hippem Ambiente und lockerer Runde über den Tod gesprochen wird. Es gibt podcasts, die sich mit dem Thema beschäftigen. Death Positive ist auch ein Ausdruck dessen, dass die Kirche als Orientierungspunkt in der Gesellschaft für die Mehrheit weggefallen ist. Für nicht-gläubige Menschen gibt es oft keine Rituale, keine Bilder. Die Death Positive Bewegung versucht hier eine Lücke zu schließen. Ist Death Positive also die postmoderne Weise auf Senecas Aufforderung zu antworten, stets an den Tod zu denken, um die Angst vor ihm zu verlieren?
Die Teilnehmerinnen der Veranstaltung bleiben nachdenklich zurück. Vielen ist allerdings die Skepsis ins Gesicht geschrieben, als die
Referentin von einer App erzählte, die einen fünf Mal am Tag zu unterschiedlichen Zeiten an die eigene Sterblichkeit erinnert. Oder
bezüglich der inzwischen erhältlichen Lebenszeituhren, die – programmiert durch eigene biographische Angaben – den voraussichtlichen
Todeszeitpunkt errechnen und auf welchen die Zeit rückwärts läuft… (Sollte sich die Uhr verrechnet haben, erscheint bei jedem weiteren Tag
der Hinweis: jeder Tag ist ein Geschenk…)
Auf gelungene Art und Weise regt die Veranstaltung das Nachdenken und den Austausch über ein Thema an, das zum Leben dazugehört. Wie man
die vorgestellten „Erinnerungshilfen“ für sich bewertet und ob der Abend letztendlich einen Einfluss auf die eigene Art zu leben hat, mag jeder für sich entscheiden, aber eins ist sicher: Totschweigen ist die schlechteste Entscheidung.
Karin Gröger, Gemeindereferentin PG Kaufbeuren
Der Artikel bezieht sich auf eine Veranstaltung der Domberg-Akademie Freising im Februar 2024. Das von Dr. Thomas Steinforth und Magdalena Falkenhahn erstellte und ausgeteilte Handout für die Teilnehmerinnen ist Grundlage dieses Artikels.